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Potsdamer Neueste Nachrichten - 13/05/2014
VORSCHAU AUF DIE POTSDAMER TANZTAGE
Schnell, konzentriert und nackt
 
Man merkt es sofort, wenn man das diesjährige Programmheft in die Hand nimmt: Kaum bekannte, lauter neue Gesichter! Nur die Companie von Lia Rodrigues aus Rio de Janeiro war bereits vor vier Jahren mit ihrer großartigen „Welle“ in Potsdam zu Gast. In diesem Jahr wird die Choreografin, die in Brasilien in einer Favela in Rio Pionierarbeit leistet, die Zuschauer in der Schinkelhalle hautnah am letzten Teil ihrer Trilogie – „Pindorama“ – teilhaben lassen. Mit wenigen Requisiten und elf, zumeist nackten Darstellern wird Lia Rodrigues eine Szenerie wie im Regenwald erschaffen und eine außergewöhnliche Begegnung zwischen Zivilisation und Natur ermöglichen.
 
Doch bevor diese brasilianischen Tanz-Urgewalten losbrechen, werden die 24. Tanztage mit einer Gruppe eröffnet, die es vor wenigen Monaten so noch gar nicht gegeben hat. Der französische Choreograf Heddy Maalem holte fünf junge Krump-Tänzer von der Straße auf die Theaterbühne und formte innerhalb kurzer Zeit aus Individualisten, die bis dahin nur Battle-Erfahrung hatten, ein Ensemble, das mit beeindruckender Körperlichkeit und authentischer Spiritualität in den Bann ziehen wird. Krumping ist eine sehr schnelle, expressive Tanzform, die in den 90er-Jahren in den Ghettos von Los Angeles entstand und von dort aus weltweit die Streetdance-Szene beeinflusste. Die Musikdramaturgie von „Eloge du Puissant Royaume“, so Festivalleiter Sven Till, ist ein Crossover aus 300 Jahren Musikgeschichte; sie zeichnet sich durch starke Brüche und ein Nebeneinander von Musik aus. Das reicht von Johann Sebastian Bach bis zum Beatboxen.
 
Zum ersten Mal in Deutschland, aber leider auch zum vorletzten Mal überhaupt zu sehen ist die Aufführung „Baron Samedi“ von Alain Buffard. Mit dem französischen Choreografen, der sich wiederholt mit dem musikalischen Werk von Kurt Weill auseinandersetzte, war eigentlich für dieses Jahr eine Residenz in Potsdam verabredet; dann aber starb Alain Buffard im Dezember 2013, gerade erst 53 Jahre alt. Jetzt stehen in Potsdam seine fünf Performer auf der Bühne, die als Schauspieler, Tänzer und Sänger brillieren, und in einem babylonischen Sprachengewirr die große Wandlungsfähigkeit und Internationalität des Weillschen Werkes in einem Kosmos aus Karneval und (deutschem) Kabarett auf der großen Bühne des Hans Otto Theaters aufleuchten lassen werden.
 
Nach diesen drei sehr erfahrenen Choreografen präsentieren sich diesmal auch jede Menge neue Gesichter, junge Choreografen, die am Beginn ihres internationalen Durchbruchs stehen und denen Sven Till eine spannende Entwicklung vorhersagt; einige werden noch in diesem Jahr in Residenzen in der „fabrik“ zu erleben sein. Zu ihnen zählen die Griechin Kat Válastur, der Niederländer Jan Martens, die finnischen Artisten von „Cie Nuua“ und der Franzose Mickaël Phelippeau.
 
Phelippeau steht zudem noch für einen anderen Trend, der die Tanztage, die vom 21. Mai bis zum 1. Juni stattfinden, prägen wird: Phelippeau choreografierte vor wenigen Wochen ein abendfüllendes Solo für einen erst 14-jährigen Tänzer. Er lernte Ethan bereits als neunjährigen Tanzschüler kennen und war überwältigt von dessen tänzerischer und sängerischer Kraft und Klarheit. Jetzt, am Beginn der Pubertät des Jungen, wird die Unwiederbringlichkeit des Kindseins an der Schwelle zum Erwachsenwerden, singend und tanzend und auch in Interviewsequenzen, thematisiert.
 
Völlig anders geht Ugo Dehaes aus Brüssel heran, der mit acht Mädchen und jungen Frauen – sie sind zwischen 10 und 15 Jahren jung – das Stück „Girls“ einstudierte, das er ursprünglich für Frauen zwischen 36 und 52 choreografiert hatte. Wenn die sehr jungen Protagonistinnen das Material der viel Älteren tanzen, wird man, so erzählt Sven Till, durch ihre konzentrierte Präsenz und ernsthafte Lebendigkeit unweigerlich in den Bann gezogen. Atemberaubend ist das schon, wenn man Ausschnitte aus beiden Inszenierungen, in einem Video auf der Videoplattform „vimeo“ zusammengeschnitten, im Internet anschaut.
 
Der Abschlusstag des Festivals fällt mit seinem traditionellen Familientag auf den Internationalen Kindertag. Neben Schnupperkursen von Slackline bis Hip-Hop, sowie einem tänzerischen Open-Air-Versteckspiel gibt es auch eine weitere Aufführung der Gattung Nouveau Cirque zu sehen: Zwei Männer aus Finnland sind in „Lento“ im Dialog mit unzähligen Luftballons und laden die Zuschauer ein, mit Jonglage, Akrobatik und Magie das Wunder des Fliegens zu zelebrieren. Wie immer gibt es begleitend ein umfangreiches Workshop- und Konzertprogramm und auch Tanz im Freien. Lali Ayguadé und Nicolas Ricchini aus Barcelona werden erstmals in Deutschland, und neu für die Tanztage, an der Friedenskirche im Park Sanssouci, bei freiem Eintritt, zu erleben sein. Und zu guter Letzt gibt es auch in diesem Jahr bei fast allen Companien die Gelegenheit, die Artisten bei Zuschauergesprächen näher kennenzulernen.
 
Die Tanztage finden vom 21. Mai bis 1. Juni in der „fabrik“, Schiffbauergasse 10 statt. Weitere Informationen zum Programm unter www.fabrikpotsdam.de

- Astrid Priebs-Tröger

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