<< back to all the articles.


BaZ - 17/02/2022
Das Fleisch zappelt und die Raupe kriecht

Die Choreografie «Simple Machines» von Ugo Dehaes reflektiert auf satirische Art und Weise die heutige digitale Gesellschaft.

Es knistert, knarrt und quietscht. Auf dem Tisch liegt eine Schachtel, darin bewegt sich eine braune, skelettartige Gestalt hin und her, versucht sich aufzurichten, schafft es aber nicht. Neben der Schachtel eine rosarote, undefinierbare Masse, fleischig und glitschig. Könnte ein menschliches Organ sein. Auch dieses Ding regt sich – oder probiert es zumindest – so, als würde es irgend- wohin laufen wollen. Etwas weiter weg bewegt sich unbeschwert eine Kartonbox über den Tisch.
Verantwortlich für diese absurden Kreaturen und Zustände ist Ugo Dehaes, ein belgischer Tänzer und Choreograf, dessen Performance «Simple Machines» dieser Tage im Vorstadttheater zu sehen ist. Was er auf die Beine gestellt hat, ist eine Choreografie, in der Maschinen die Protagonisten sind. «Sie arbeiten kostenlos für mich, brauchen nicht viel Platz, sind zeitlich flexibel», erklärt er seinem Publikum gegenüber. Perfekt für die heutige Zeit, in der alles immer günstiger und schneller gehen müsse.

Einmal verärgert, einmal niedlich

Dehaes holt nochmals eine Schachtel hervor und packt eine weitere Kreatur aus. Sie erinnert an eine überdimensionale Raupe: Ekelhaft? Wenn es nach dem Künstler geht, wohl kaum: «Mein Baby-Roboter», sagt er zärtlich, streichelt dem Ding sanft über den Rücken und legt es schliesslich behutsam auf den Tisch. Im Lauf der Vorstellung gesellen sich tanzende Ameisen, zwei sich umarmende Finger und fünf von oben herabhängende Tentakel als Synchrontänzer dazu. Natürlich alles «nur» Maschinen. Doch das Verblüffende dabei: Je nach Geste sind genau diese Maschinen in der Lage, unterschiedliche Emotionen auszudrücken. Bewegen sie sich schnell und energisch, wirken sie verärgert, bewegen sie sich hingegen sanft und kommen einander näher, wirken sie fast schon etwas niedlich. Fast.
Was grösstenteils recht eklig, beunruhigend und verstörend ausschaut und am Donnerstag im Publikum für grosse Augen sorgte, stellt im Prinzip nichts anderes dar als die heutige Gesellschaft – auf zugegebenermassen ziemlich verzerrte Art und Weise.
Im Prinzip sind es nämlich jene Maschinen, die tagtäglich unter uns leben, Arbeitskräfte ersetzen, uns in Form von Smartphones und Laptops begleiten und schliesslich kaum mehr aus unserem Leben wegzudenken sind. Dass es Absicht ist, die heutige digitale Welt zu reflektieren, bestätigt der Künstler auf Anfrage der BaZ: «Ich lasse in meiner Show die Roboter die Künstler sein. Die Inszenierung ist ein Spiegel unserer heutigen Welt, in der die Technologie die Arbeiter ersetzt. Ich gehe absichtlich einen Schritt zu weit.»

Mensch und Maschine verschmelzen

Ugo Dehaes lässt in seiner Inszenierung Mensch und Maschine ineinander verschmelzen und deren Grenzen quasi verschwinden. Das scheint zu gelingen: Plötzlich streichelt jemand aus dem Publikum, das rund um den Bühnentisch sitzt, eine sich bewegende Schachtel. Wie bitte? Gewöhnen wir uns Menschen wirklich so schnell an das Zusammenleben mit Maschinen?
Was das Publikum betrifft, so liegt die Altersfreigabe für die Vorstellung bei zwölf Jahren. Bei guten Englischkenntnissen – Ugo Dehaes spricht kein Deutsch – wird sie sogar Kindern ab acht empfohlen. Doch unter den Zuschauerinnen und Zuschauern sass am Donnerstag kein einziges Kind. Nur Jugendliche – hauptsächlich in Schulklassen – fanden den Weg ins Theater.
Dies mag nicht überraschen, wenn man bedenkt, dass die Inszenierung ursprünglich gar nicht für Kinder gedacht war. Auf die Idee, die Vorführung auch für die ganz jungen Zuschauer zu öffnen, kam der Künstler erst durch seine siebenjährige Tochter. «Sie war fasziniert von meinen Maschinen», sagt er und ist davon überzeugt, dass solche Gestalten auf Kinder harmloser wirken als bei Erwachsenen: «Wo ich einen Ausserirdischen oder ein ekelhaftes Stück Fleisch sehe, sehen Kinder ein schönes Rosa und ein Tier zum Streicheln.»
Ugo Dehaes zeigt in «Simple Machines» im Prinzip die Entwicklung der Technologie und die Dimensionen, die diese annehmen kann. Was er mit seiner Parodie indirekt – ob gewollt oder ungewollt – zugleich aufzeigt, sind die Gefahren, die ebendiese Entwicklung mit sich bringt: Wir gehen auf Gefühle ein, die in Wirklichkeit gar keine sind, und bauen Beziehungen zu Gegenständen auf, die leblos sind. Vielleicht kennen Sie diese elektronischen Plüschhaustiere-Spielzeuge – seien es Welpen, Katzenbabys oder Ponys. Sie verhalten sich wie echte Tiere, doch mit diesen befremdlichen Kreaturen von «Simple Machines» haben sie nichts zu tun. Oder etwa doch?

<< back to all the articles.